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Auf Schleichwegen mit dem Schriftsteller Max Frisch

Es ist das erste Mal, dass ich dabei bin. Das Schwäbische Meer ist seit vielen Tagen in Nebel gehüllt – nur Grautöne – kein Windhauch. Unten, im ehemaligen reichsfreien Städtchen, sprechen sie von der „Hungerburg”. Es stimmt schon, obgleich die Betonung auf Entschlackung liegt, sagen die oben im Sanatorium. Aber diese Entschlackung ist nur über rigoroses Fasten zu erreichen. Und das sieht so aus: morgens Tee, ans Bett serviert, mittags Brühe mit jeweils einem Hauch von Tomate, Brokkoli oder anderen Gemüsesorten. Um zwei Uhr wieder Tee mit einem Klacks Honig, auf den man sich schon morgens freut. Abends Brühe oder Saft, dazwischen Liter-weise Mineralwasser – stilles, versteht sich. Und davon lebt man drei, vier Wochen, manche gar noch länger, je nach Krankheitsbild oder Pfunden. Im Sanatorium wird erzählt, dass gar mancher an Stöcken ankomme und ohne Stöcke weggehe. Hartnäckige Hautkrankheiten verschwänden durchs Heilfasten für immer. Normalerweise spielt das Wetter im Urlaub oder während der Kur eine zentrale Rolle. Hier nicht. Nur der Blick auf die Waage entscheidet über Sieg oder Niederlage. Jeden Tag wird man gewogen, manchmal steht die Waage fünf Tage still; dann herrscht unter den Patienten depressive Stimmung. Aber dann kann es vorkommen, dass man über Nacht plötzlich ein Kilo los wird. Wie Siegesmeldungen werden die einzelnen Ergebnisse ausgetauscht, bei der Gymnastik, im Schwimmbad, in der Trinkhalle.

„Ich bin hier, um mich von den Medikamenten zu entgiften, seit Monaten habe ich kein Auge zugemacht”, erzählt die Diplomatenfrau aus Luxemburg. Madame, eine Pariserin, weilt hier, um sich für ihren Mann schön zu erhalten. Noch ist sie es. Die Herren umschwirren sie: im Schwimmbad ist ihr der deutsche Sektfabrikant immer am nächsten. Sie schwimmen nur in kleinen Stößen, die Köpfe sind nicht geradeaus gewandt, nein, sie blicken sich unentwegt an, und er freut sich, dass er sein Französisch – mit hessischer Klangfärbung – anbringen darf. Die drei handfesten Schwäbinnen schauen dem Schwimmflirt kopfschüttelnd zu: „Dia schwätzt de ganze Zeit, dees hot doch mit Schwimme nix zu doe”.
Rolf, die Seele der Gymnastikhalle. seinem Wesen, seinem Lächein, seiner Geduld nach ein Asiate, obwohl in der Zeppelinstadt aufgewachsen, ist sehr häufig bei den mittäglichen Kurzausflügen dabei. Für ihn gibt es keinen Zweifel, dass er schon einmal gelebt hat, irgendwo in Asien, er weiß es ganz sicher. Und ich bin fast dabei, es zu glauben. Nie hat das Essen eine solch zentrale Rolle gespielt wie auf diesen Wanderungen. Von Hummer, Lachs und Kaviar schwärmen die einen, die anderen von einer deftigen Brotzeit, Urn diesen Quälereien zu entgehen, fange ich an, die einzelnen nach dem Wohnort, und wenn ich sie besser kenne, nach dem Beruf zu fragen. Vor zwei Tagen kam ein Neuer. Zwei Meter lang, aber mit einem Bauch ausgestattet, als habe er einen Riesenfußball verschluckt. Er wirkt grobschlächtig, aber als ich mit ihm näher ins Gespräch komme, spüre ich seinen Humor, seine Feinfühligkeit. „Findens net a, man is viel sensibler g’worden. seit der Fasterei, i hob neulich den „Fidelio”. 1.Quartett, im Schollplotleng’schäft g’hört, Tränen san mer komme, so schön fand ich’s nie.” Er ist Österreicher, Lebkuchenhersteller und wohnt in der Nähe von Klagenfurt. Er gesteht mir gleich, dass er nur mit großem Widerwillen hierher gekommen sei. Nicht die Lebkuchen haben ihn so außer Form geraten lassen, sondern das Bier, der Wein. Fleisch und Wurst. Bevor er die „Hungerburg” betreten habe, sei er kurz vor dem Ziel noch dreimal zünftig eingekehrt, um diese Strapazen zu überstehen. Aber jetzt fühle er sich sehr wohl. Er komme sich vor wie ein Held auf dem Schlachtfeld……

Im Städtchen unten wird Fasnet gefeiert, alemannisch. Die Jungen schwingen riesige Peitschen, stellen sich mitten in die Straßen und hallen so den gesamten Verkehr in Schach, Ich hätte Lust, diese Sitte Zuhause einzuführen, ohne Fasnet. Keiner wagt, sich ihnen zu nähern, denn das könnte tödlich sein. Und irgendwann, wenn der Knall besonders gelungen ist. treten sie zur Seite, und der Verkehr rollt weiter. Das war doch
der…..Ja, er ist’s. Der bekannte Schweizer Schriftsteller. Die Kurgäste, besonders die Damen, machen sich auf, die Buchläden zu stürmen; auch solche, die nie lesen, kaufen zumindest seine Werke. Und nun beginnt der große Wettlauf des Signierens. Man trifft ihn nicht allzu oft, ab und zu mal in einer gemeinsamen Gymnaslikstunde, das ist alles. Die elegante Grauhaarige aus Köln trägt jedoch vorsichtshalber das Bücherpaket immer mit sich, es könnte ja sein, dass sie ihm irgendwo begegnet.

Und nach Tagen hat sie auch Glück. Wie ein junges Mädchen errötet sie und bittet ihn, den Packen Bücher zu signieren. Er ist sehr liebenswürdig, er kommt gerne dem Wunsche nach. Neulich hatte sie mir schon erzählt, ihr Mann schreibe Steuerfachbücher, Sie fragt den Schriftsteller, ob er nicht Interesse an einem solchen Exemplar habe? Er wehrt lachend mit den Händen ab. ..ich bezahle meine Steuern, aber Bücher möchte ich darüber nicht lesen”.
Viele Patienten vom Nachbarufer sind da. Einer erzählt von der Sauna, die er mit dem Schriftsteller geteilt habe. „Er ist ein Nestbeschmutzer, ein übler, da kann er noch so viele Doktorhüte bekommen!” Ich frage ihn, ob er mit ihm debattiert habe? „Gott bewahre, ich werde mich doch nicht mit ihm anlegen,wo denken Sie hin!” Am nächsten Morgen, auf der Treppe, begrüßt er den „Nestbeschmutzer” auf Schwyzerdütsch: Hand Sie au guet g’schlafe, wie geht’s (hne – isch ihne d’Umschtellig würklich nöd schwergefalle? Gal, mir Landslüt müend doch zamhalte!” Auch ich mache mich auf den Weg. die neuesten Werke zu holen. Es ist fast alles vergriffen, man muss es bestellen. Und wenn ich nachts nicht schlafen kann, lese ich; dabei entdecke ich eine Stelle, die mich ungeheuer aufregt. Ich muss einfach mit ihm darüber sprechen. Wie macht man das? Am anderen Morgen, vor dem Schwimmbad, treffe ich ihn und fasse mir ein Herz, wann er mal Zeit und Lust zu einer Plauderstunde habe? „Am besten gleich heute abend”, schlägt er vor… „wir können ja die Suppe gemeinsam auf meinem Zimmer auslöffeln.”

Und das ist nun der Beginn eines intensiven Gedankenaustausches über Religion, Tod, Liebe, Politik, Begrüßt hat er mich mit der Bemerkung: „Sie sind sicherlich eine ausgezeichnete Köchin.” Ich muss zugeben, dass mir die kulinarischen Genüsse nicht unwichtig sind. Ich erzähle ihm, dass ich mein Fahrrad dabei habe, um die Umgebung schneller zu entdecken. „Das ist eine gute Idee”, meint er. „das würde mich auch mal wieder reizen, aber ich bin schon lange nicht mehr geradelt”. Ich schlage ihm eine Probefahrt auf meinem Fahrrad vor. Am nächsten Mittag, es ist immer noch zu kalt für die Jahreszeit, Er dreht eine Runde auf dem Parkplatz. Es geht, es scheint ihm Spaß zu machen. Zuvor biete ich ihm meine Handschuhe an. Sie passen.
Er hat eine auffallend kleine Hand. Am Seeufer radelt er mir davon; ich renne ihm nach bis zum Verkehrsamt, denn dort habe ich ein Herrenfahrrad vorbestellt. Er will es gleich für zwölf Tage mieten. Der Chef des Amtes ist fassungslos. Er kann nicht begreifen, dass man zu dieser kalten Jahreszeit volle zwölf Tage ein Fahrrad mieten will. Verträge werden ausgestellt, mehrmalige Unterschriften sind notwendig, bis wir endlich das bei Gott nicht mehr neue Vehikel in Händen haben.

Ich radle voraus, da ich die Schleichwege schon kenne, die Autos zu umgehen. Um den Weg abzukürzen, fahre ich durch die Tankstelle durch. Kopfschüttelnd folgt er mir nach. Er hätte gerne die Führung übernommen, das fühle ich geradezu, er muss aber zugeben, dass meine Schleichwege gar nicht so übel sind, wenn auch nicht immer ganz legal. „Mit Ihnen lande ich noch in einem alemannischen Gefängnis, wenn das so weitergeht”, und prompt steigt er ab, als das Zeichen „Für Fahrräder verboten” erscheint, wahrend ich lachend weiterradle. Ich frotzle ihn, „seit wann halten Künstler sich denn so strikt an Paragraphen?” – „Nur in der Kur bin ich ein Engelein”, ruft er zurück, was ich sehr bedaure.
Und eines morgens, als ich gerade von der Sauna zurückkomme, wer sitzt auf der kalten Steintreppe, Pfeife rauchend, finster blickend? Er.

„Ich habe so einen Hunger, ich halte das einfach nicht mehr aus, nur meine Pfeife kann mir jetzt helfen.” In der Teeküche bekomme ich ein Glas Buttermilch für ihn – das einzige, was als Zusatznahrung erlaubt ist – die ich ihm ans Bett bringe, denn inzwischen ist ihm sehr kalt geworden. Ein dankbarer Blick trifft mich.
Die Strecke am See entlang zur berühmten Kirche von Peter Thumb. durchs barocke, schon lange im Verfall begriffene Klostertor radelnd, wird unsere Standardtour. Die Ufer sind zwar sehr zugebaut, von Zweitwohnungen, mehr oder minder hässlich. von Yachthäfen. Die Boote, aufgebockt, ragen wie Urwelttiere aus dem Grau der Landschaft, Der See lächelt nie, der Frühling ist noch fern, und er meint, den Blick auf die Landschaft gerichtet, „Erwartung ist schöner als Erfüllung”,